Reinhard Mey

Ich Trag Den Staub Von Deinen Straßen- Berlin -

Reinhard Mey


Ich trag' den Staub von deinen Straßen
An meinen Schuhen heute noch mit mir herum.
Ich hab' sie halt nie putzen lassen,
Nur aus Vergeßlichkeit? Nun ja, vielleicht darum.
In tausend Liedern hat man dich besungen,
Da kommt es nun auf ein Lied mehr ja auch nicht an.
Ich hab' den Kopf voll von Erinnerungen,
Mehr als ich wohl in einem Lied erzählen kann.
Von Moabit bis hin nach Lichtenrade,
Vom Wedding bis hinauf nach Wittenau.
Da kenn' ich Kneipen, Plätze, Fassaden
Wie jedes Loch in meinen Taschen so genau.

Da gibt es Kneipen, wie vor hundert Jahren,
Da steh'n am Tresen noch die Stammkunden umher,
Die zur Eröffnung auch schon hier waren,
Da gibt es Dinge, die gibt es schon fast nicht mehr.
Da ist der Bierhahn niemals ganz geschlossen,
Da steht ein Brotkorb, und der ist für jeden frei,
Und mancher holt sich dort sein Almosen
Und ißt's im Duft von Eisbein und Kartoffelbrei.
Da gibt es Straßen voller Glanz und Flitter,
Und ein paar Schritte weiter and're Straßen, wo
Die Tür'n verschloß'ner als Kerkergitter,
Die Pflastersteine härter sind, als anderswo.

Da gibt's Fassaden, die wie damals prangen,
Und jeder Mauerstein erzählt: es war einmal!
Als wär' die Zeit dran vorbeigegangen,
Dann gibt es andere, da war es nicht der Fall.
Da gibt es Heilige und Sonderlinge,
Weltenerlöser und Propheten aller Art.
Und man hört lächelnd verworr'ne Dinge
Von Weltenuntergang und sünd'ger Gegenwart.
Da gibt's noch Seen und richtige Wälder
Mit echten Förstern drin in zünft'ger Tracht.
Da gibt's noch richtige Wiesen und Felder,
Und echte Füchse sagen sich dort „Gute Nacht".
Da gibt es Laubenpieper, deren Gärten
Ein Stückchen Sanssouci, ein Stückchen Acker sind.
Vor Apfelbäumen und Gartenzwergen
Dreh'n unverdrossen kleine Mühlen sich im Wind.
Da gibt es Dorfau'n, wie im Bilderbogen,
Auf denen spenden Gaslaternen gelbes Licht.
Da sind die Vorhänge zugezogen,
Und hinter jedem Vorhang regt sich ein Gesicht.
Da gibt es Wüsten aus Beton und Steinen,
Und alle Straßen darin sind gespenstisch leer.
Wie eine Fata Morgana scheinen
Noch ein paar Schrebergärten vor dem Häusermeer.

Höfe, in die sich keine Fremden wagen,
In denen immer grade irgendwas passiert,
In denen, wie hier die Leute sagen,
Man mit dem Schießeisen die Miete abkassiert.
Da gibt's von Zeit zu Zeit noch einen greisen,
Halbtauben Lumpensammler, der am Haustor schellt,
„Ankauf von Lumpen, Papier, Alteisen!"
Schon fast ein Fabelwesen einer and'ren Welt.
Der Braunbierwagen fährt längst and're Lasten.
Den Scherenschleifer und den Kesselschmied,
Den Alten mit seinem Leierkasten,
Die gibt es fast nur noch in meinem Lied.

Ich trag' den Staub von deinen Straßen
An meinen Schuhen heute noch mit mir herum.
Ich habe sie halt nie putzen lassen,
Nur aus Vergeßlichkeit? Nun ja, vielleicht darum.